Ruck zuck. Innerhalb von wenigen Minuten hat die Schwester mit der weißen Schürze und dem blauen Kittel den Mann auf dem Bett vor ihr durchgecheckt. Sie hält ihm die Augenlider auf, fühlt den Puls und die Temperatur. Routiniert setzt sie die Spritze in die Armbeuge des Mannes, schon hat sie das Medikament in seine Blutbahn gepumpt. Ihr Patient lächelt abwesend. Er vertraut der Schwester, ganz offensichtlich. Ein Bett weiter dieselbe Prozedur: Augenlider, Puls, Temperatur. Dann die Spritze. Die Schwester greift sich das Tablett mit dem medizinischen Besteck und zieht die Spritze auf. Ab in den Arm mit der Nadel, schon muss die Pflegerin weiter, zum nächsten Bett. Ein Dutzend Patienten wartet in diesem Saal des Krankenhauses in Delhi noch auf Behandlung. Auch der Dritte bekommt eine Spritze in die Armbeuge. Patienten durchchecken und Medikamente spritzen, das macht die Schwester jeden Tag – mit nur einer Spritze für alle.
Innerhalb von wenigen Minuten hat die Inderin so höchstwahrscheinlich Milliarden von Viren und Keimen verteilt, darunter die Erreger von HIV, Hepatitis und Tuberkulose – an Patienten, die wegen einer harmlosen Lungenentzündung oder einer Operation kamen und die das Krankenhaus mit einem tödlichen Virus im Blut verlassen, ohne es zu wissen. Abends wäscht die Schwester die Spritze und ihre Schürze sorgfältig mit heißem Wasser. Die Flecken verschwinden. Die Keime nicht.
Marc Koska hat solche Szenen nicht nur in Indien beobachtet. Auch in Pakistan, Indonesien, China und Afrika werden Spritzen und Nadeln wieder und wieder verwendet. „Viele Ärzte und Schwestern benutzen ihre Spritzen wie Stifte oder Scheren“, sagt Marc Koska, „sie stellen sie in einen Ständer auf dem Schreibtisch, ohne daran zu denken, wie gefährlich das ist.“ Das Spritzenrecycling führt jährlich zu Produktionsausfällen und Behandlungskosten von weltweit über 100 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Weltweit setzt die Spritzenindustrie nur einen Bruchteil um, etwa vier Milliarden Dollar im Jahr.
Marc Koska, ein Mann mit halblangem, braunem Haar, macht seit über 28 Jahren nichts anderes, als gegen die Wiederverwendung von Spritzen zu kämpfen – mit seiner Charity-Organisation „Lifesaver“, zu deutsch Lebensretter, aber auch mit seiner eigener Spritze, der K1, deren Inneres zerbricht, sobald sie ein Mal benutzt wurde. Sein Unternehmen „Star Syringe“ mit Sitz in der Nähe Londons vergibt Patente für die K1, die inzwischen in Afrika, Indien, Spanien, China und Indonesien hergestellt wird. Noch in diesem Jahr will Marc Koska seine Patente frei zugänglich machen, damit bald mehr als nur zwei Millionen dieser Einweg-Spritzen am Tag hergestellt werden können. Lesen Sie hier die ganze Geschichte aus der WELT: Der Spritzenmann.